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An dieser Stelle werden immer mal wieder neue Kurzgeschichten und zum Teil Gedichte zu finden sein. Sie können eine Übersicht über meinen Schreibstil geben, inspirieren oder einfach nur unterhalten.
Fenster zum Hof
Ich saß an meinem Schreibtisch und sah hinaus. Betrachtete das alte Bauernhaus gegenüber, dachte an Hermann. Ließ den Blick schweifen über den Hof, dessen rissiger Beton bedeckt war von den goldenen Blättern des Herbstes. Bald würde hier eine dicke Schneedecke liegen, die die Spuren von dem, was geschehen war, unter sich verstecken würde. Zumindest bis zum Frühling.
Ich sah hinaus durch mein Fenster zum Hof. Dachte mir, dass ich die Scheiben dringend mal wieder putzen sollte. Sie legten einen grauen Nebelschleier über die Welt und machten die Sicht nach draußen fast unmöglich. Einen Nebelschleier, der das Unterscheiden zwischen dem, was man sich nur einbildete, und dem, was Wirklichkeit war, erschwerte.
Doch gleichzeitig gaben mir die dicken Fensterscheiben Sicherheit. Versteckten mich in meinem Zimmer, stellten mich nicht zur Schau. Verrieten nicht, dass ich die ganze Zeit dasaß und die kleine Welt im Hof beobachtete. Und sie verrieten vor allem nicht, dass ich an jenem Montag hier gesessen hatte, als das Unglück geschah. Zugeschaut und doch nichts getan hatte. Ein heimlicher Beobachter der vergehenden Zeit.
Ich hatte sie liegen sehen, die Frau, nachdem es passiert war. Wie schlafend auf dem kalten Beton. Regungslos. Und doch irgendwie schön, dachte ich. Schön für ein paar Sekunden. Bis das Blut begann, aus ihrer Nase zu laufen und aus ihren Ohren. Und als es schließlich auch aus ihren Augen rann, sah es aus, als ob sie weinte.
Das war der Moment, in dem ich verstand, was geschehen war.
Jetzt saß ich in meinem Zimmer, blickte aus meinem sicheren Schutz hinaus in den Hof, und weil das Fenster so schmutzig war, dass ich nur Konturen erkennen konnte, bildete ich mir ein, die Frau auf dem Boden liegen zu sehen, wie damals. Ihr Mann Hermann neben ihr, unruhig hin und her laufend. Was war geschehen? Ich malte es mir aus und glaubte schließlich, es durch die vergilbte Fensterscheibe und das Muster des Staubes tatsächlich sehen zu können.
Die Vorhänge des Nachbarhauses gegenüber waren in meinen Gedanken plötzlich wieder aufgezogen. Blumen standen auf den Fensterbänken, die die Frau von gegenüber immer gut pflegte. Aus dem Winkel meines Zimmers konnte ich genau ins Wohnzimmer der Familie schauen. Hermann und seine Frau fielen mir in den Blick. Sie schienen sich über irgendetwas heftig zu streiten. Ich hörte die beiden sich anschreien und abwechselnd fluchen. Ihre Stimmen schaukelten sich im Kessel des Hofes an den Hauswänden auf und drangen bis in mein Zimmer. Dann wurde die Balkontüre aufgerissen. Die Frau prallte an einen Blumenkasten, der mit einem Knall hinunter fiel. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass meine Fensterscheibe vom Knall vibrierte. Der Streit wurde heftiger, das Geschrei wurde lauter. Hermann kam näher und die Frau wich zurück. Ich hatte meine Hände vor den Mund gelegt und doch kam ein leises Wimmern heraus. Eine Vorahnung war es, die mich zum Frösteln brachte. „Du Idiot!“, war das Letzte, was die Frau sagte, bevor Hermann sie an den Schultern packte und über das Geländer stieß.
So könnte es gewesen sein, dachte ich mir. Mord wegen eines Ehestreits.
Aber so war es nicht. Das wusste ich. Es könnte ebenso gut anders gewesen sein.
Ich blinzelte, rieb mir die Augen, erkannte die Konturen der Welt hinter meinem Fenster, und überlegte, was geschehen sein könnte.
Im Haus auf der anderen Seite des Hofes sah ich wieder die Frau. Diesmal war Hermann nicht bei ihr. Sie saß auf dem Schaukelstuhl im Wohnzimmer und las ein Buch. Welches Buch es war, konnte ich von meinem Zimmer aus nicht erkennen. Doch es schien ihr zu gefallen, denn sie war sehr vertieft und blickte kein einziges Mal auf. Die Szenerie sah beinahe aus, wie eingefroren. Nur das Umblättern der Seite, wenn sie am Ende angelangt war, verriet, dass die Frau nicht eingeschlafen war. Plötzlich sah ich jedoch eine Bewegung im Hof, unweit meines Fensters. Ich erschrak und versuchte so gut es ging, mich nicht zu bewegen. Zunächst war es ein Schatten, den ich im hellgelben Licht der aufgehenden Sonne sah. Dann wurde er greifbar und ich erkannte eine schwarze Gestalt, die sich an der Wand des Nachbarhauses entlang tastete und sich dabei immer wieder hektisch umsah. Vielleicht war es Hermann, dachte ich mir, der sich einen Scherz erlaubte. Wer sonst sollte zu einer frühen Morgenstunde wie dieser ganz in schwarz gekleidet über den Hof schleichen. Die Person trug einen Stoff über dem Kopf, der wie eine Skimaske aussah und es unmöglich machte, zu erkennen, ob es eine Frau oder ein Mann war. Ich fühlte mich wie bei einem Gangsterfilm. Nur nicht vor dem Fernseher, sondern mittendrin. Das Gefühl bestätigte sich, als die dunkle Gestalt an der Tür des Nachbarhauses angekommen war und mit erstaunlichem Geschick daran arbeitete. Sie hatte den Rücken zu mir gekehrt und verdeckte die Sicht, aber ich glaubte, ein kleines Werkzeug aufblitzen zu sehen. Nur wenige Sekunden später war die Tür geöffnet und die Gestalt in der Hauseinfahrt verschwunden. Die Frau saß immer noch in ihrem Schaukelstuhl. In der Zwischenzeit hatte sie sich einen Tee gemacht, der dampfend vor ihr auf dem Couchtisch stand. Gebannt starrte ich durch das Fenster ins Nachbarhaus, als ich sah, wie sich die Tür zum Wohnzimmer einen Spalt öffnete. Zuerst schob sich eine Hand hinein, dann ein Fuß. Schließlich stand die schwarz gekleidete Gestalt mitten im Wohnzimmer. Der Schaukelstuhl der Frau war in die entgegengesetzte Richtung gedreht. Meine Hand wollte instinktiv zum Telefon greifen, das direkt neben mir im Regal stand. Doch ich traute mich nicht, aus Angst davor, die Gestalt könnte meine Bewegung vom Nachbarhaus aus sehen.
Sie sah sich um, schien etwas zu suchen. Bückte sich an eine Kommode heran, öffnete die Schmuckschatulle, nahm jedoch nichts hinaus. Als sie den Deckel wieder schließen wollte, schien ein Geräusch zu ertönen, denn plötzlich drehte sich die Frau auf dem Schaukelstuhl um und stieß einen kurzen Schrei aus, der mich erstarren ließ. Es geschah so schnell, dass ich die Bewegung gar nicht richtig wahrnehmen konnte. Innerhalb einer Sekunde hatte der Einbrecher einen Baseballschläger in der Hand. Erwartungsvoll sah er die Frau an, schien etwas zu fragen. Sie zuckte angsterfüllt mit den Schultern. Schüttelte den Kopf. Der Einbrecher holte aus. Die Frau war innerhalb einer Sekunde tot. Der Mann lief zur Frau hinüber und legte sie über seine Schultern. Er öffnete die Balkontür mit Handschuhen und ging hinaus. Es schien ihn kaum Kraft zu kosten, die Frau über das Geländer zu wuchten und fallen zu lassen. Sie war schließlich von zierlicher Gestalt.
Ich schluckte. So könnte es tatsächlich gewesen sein. Mord, der Täter nie gefunden. Ein Serienkiller, der sich auskannte.
Doch in Wirklichkeit wusste ich, dass das nicht geschehen war. Ich überlegte kurz und hatte eine bessere Idee.
Ich sah die Frau von Gegenüber erneut im Haus auf der anderen Seite des Hofes. Diesmal war sie im Schlafzimmer und lief auf und ab. Sie sah schlecht aus. Unruhig schien sie nach Luft zu schnappen. Ich glaubte, Schweißperlen auf ihrer Stirn zu erkennen. Das Gesicht war blass, beinahe grau. Ich sah sie zum Bett laufen, wo sie sich mit zitternden Beinen hinsetzte und die Arme aufstütze, als würde sie so besser Luft bekommen. Sie blickte durch die Balkontür über den Hof, als könnte sie geradewegs in mein Zimmer schauen. Doch von außen konnte man durch mein staubiges Fenster nicht sehen, dass jemand dahinter saß, solange ich mich nicht bewegte. Das wusste ich. Die Frau legte ihre blassen Hände auf die Wangen. Sie hatte die Augen weit geöffnet, als hätte sie Angst. Irgendwann stütze sie ihre Arme wieder auf die Matratze und richtete sich auf. Sie ging ein paar Schritte nach vorne und öffnete die Balkontür. Trat hinaus und lehnte sich an das Geländer, das sehr niedrig war. Panisch starrte sie in die Weite der Wiesen und Felder, die sie von ihrem Balkon aus sehen konnte. Mit zitternden Händen zog sie ihr Handy aus der Tasche. Noch bevor sie eine Nummer eingetippt hatte, griff sie sich plötzlich an die Brust, taumelte und fiel.
Ja, so könnte es gewesen sein, dachte ich mir. Und der Gedanke, dass es ein Unfall war, der die Frau von gegenüber unsanft auf den kalten Beton befördert hatte, gefiel mir. Ein Unfall. Zufall. Eine Laune der Natur.
Aber es war kein Zufall, das wusste ich. Es war anders gewesen.
Denn in Wirklichkeit war die Frau gesprungen.
Und nur ich wusste, warum.
Endlich war Hermann frei. Ich sollte zu ihm hinüber gehen. In meinem Kleid, das er so gerne mochte. Doch ich musste noch ein bisschen warten.